Schwedens drakonisches 61:0 gegen Frankreich hat wieder die ewige Diskussion entfacht, wie hoch ein Sieg ausfallen darf. Eine Suche nach Fingerspitzengefühl.
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Floorball hat ein schweres Kreuz zu tragen. Einerseits eifert man national wie auch international einem breiten Spielbetrieb nach, der dem etablierter Hallensportarten wie Handball oder Basketball ähnelt. Andererseits ist das Leistungsgefälle noch so steil, dass viele Teams des Öfteren richtig böse auf die Schnauze fallen.
Ein Abbild der Entwicklung
Zuletzt hatte es die französischen Damen bei der WM-Quali erwischt. 0:61 unterlagen sie den schlaksigen, schnellen, dynamischen, präzisen, eingespielten und offensichtlich erbarmungslosen Schwedinnen. Fast jeder Wechsel ein Treffer, im Schnitt über ein Tor pro Minute. Zwiespältiger Weltrekord. Aber was hätten die Skandinavierinnen denn tun sollen? Schließlich hatten sie schon einen Gang rausgenommen. Aber man schießt doch nicht mit Absicht am Tor vorbei. Oder doch?
Auch im deutschen Pokal hat es dieses Jahr wieder zahlreiche hohe Siege gegeben. Fünf davon endeten sogar mit einer Differenz von mehr als 25 Toren, aber nur in zwei Spielen waren Erstligisten involviert (Landsberg gegen Wernigerode 1:31 und Augsburg gegen Weißenfels 3:31). Den höchsten Sieg sahnte mit Jena ein Regionalligist ab (43:0 gegen Radebeul). Vielleicht werden sich die Verlierer ihre Teilnahme an der kommenden Pokalsaison überlegen. Vielleicht aber auch nicht. Denn am Ende ist die ganze Sache eine äußerst subjektive Angelegenheit.
Glücklicherweise war ich nicht oft in einer derart unterlegenen Situation. Das Berliner Team in den Saisons 2004/2005 oder 2005/2006 war aber vom damaligen Meister aus Weißenfels deutlich weiter entfernt als das heutige. Zweistellige Niederlagen waren beschlossene Sache. Aber nichts wäre demütigender gewesen, als wenn Wallström, Klötzli oder Gahlert bei einem Laufduell zurückgezogen oder vorm leeren Tor aus Höflichkeit noch ein drittes Mal abgelegt hätten. Wenn schon verlieren, dann bitte ohne Geschenke.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass es nichts Unsportliches zu bemängeln gibt, wenn zwei leistungsorientierte, erwachsene Teams aufeinandertreffen, ihre maximale Leistung abrufen und eines von ihnen hoch gewinnt. Der Verlierer, der sich freiwillig zu diesem Wettbewerb angemeldet hat, hat dies zu ertragen, hat daraus zu lernen und hat es nächstes Mal besser zu machen. Der Sieger hat hingegen die Verpflichtung, sich ausschließlich aufs Sportliche zu konzentrieren. Denn die wirkliche Demütigung erfolgt dann, wenn man seinen Gegenüber nicht mehr ernst nimmt.
Eine Frage des Anspruchs
Aber der Teufel steckt im Detail, konkret in den Begriffen „leistungsorientiert“ und „erwachsen“. Denn gerade diese können selbst unter Teams aus ein und derselben Kategorie einen wesentlichen Unterschied ausmachen. Das Spiel zwischen Schweden und Frankreich war dafür ein gutes Beispiel. Während die Schwedinnen halbprofessionelle Athletinnen sind, mit einer systematischen Ausbildung und einer starken Liga, waren die meisten Französinnen bestenfalls Hobbysportlerinnen, weit davon entfernt eine ebenbürtige körperliche, geschweige denn technische oder taktische Leistung zu erbringen. Tatsächlich ist der Unterschied enorm, weit größer als etwa jener zwischen der französischen und der tongaischen Fußball-Auswahl oder der kanadischen und der spanischen Eishockey-Nationalmannschaft.
Gewiss hat der Weltverband hier Möglichkeiten, den Qualifikationsmodus anzupassen – was er auch tun wird. Länder wie Deutschland oder Dänemark könnten darunter aber langfristig leiden. Denn für sie sind die (etwas weniger) hohen Niederlagen gegen die Topnationen ein wertvolle Lektion. Sie motivieren und bilden aus. Ähnlich verhält es sich im Pokal. Hier sollen Bundesligisten durchs Land reisen und in Städten wie Augsburg, Bielefeld oder Stuttgart für die Sportart werben. Wirklich vermeidbar werden hohen Niederlagen also nicht sein.
Noch schwieriger ist es im Nachwuchsbereich. Dieser leidet in vielen Regionen unter einer chronisch viel zu geringen Anzahl an Spieltagen. Unter dieser Prämisse Spielbetriebe zu verschachteln oder zu beschneiden, wäre praktisch unmöglich. In manchen Sportarten wird ein Spiel beendet, wenn eine der Mannschaften eine Führung in einer bestimmten Höhe erreicht hat, wenn also eine Demütigung des Gegners droht. Aber auch hier würde man die bereits so schon geringe Spielzeit zu oft kürzen.
Fingerspitzengefühl gefragt
Die Dinge sind also recht komplex. Sie hängen vom Wettbewerb und von der Einstellung des Außenseiters ab, von seinem Alter und auch von seinem Anspruch. Vielleicht können wir uns zumindest auf folgende fünf Regeln einigen:
1) Kann das Torverhältnis über einen schlussendlichen Erfolg oder Misserfolg entscheiden, etwa in einer Liga oder in einer Qualifikationsgruppe, bleibt dem stärkeren Team nichts anderes übrig, als das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Der Gegner darf dabei aber nicht abwertend behandelt werden, weder mit Sprüchen noch mit Verhalten oder Gesten. Understatement ist gefragt.
2) Treffen sich Teams aus unterschiedlichen Leistungsklassen, ist das Torverhältnis für den weiteren Erfolg irrelevant (etwa im Pokal) und besteht keine greifbare Gefahr, dass sich ein geringeres Tempo negativ auf darauffolgende Leistungen auswirkt, sollte die dominierende Mannschaft versuchen, den Spielstand unter Kontrolle zu behalten. Dies sollte aber auf eine sinnvolle Weise erfolgen, etwa durch das Ausprobieren neuer Spielzüge oder den Einsatz weniger erfahrener Spieler.
3) Im Nachwuchsbereich haben Trainer die Gelegenheit, ihren Spielerinnen und Spielern wichtige Lektionen fürs Leben beizubringen – insbesondere über Respekt und Solidarität. Man sollte ihnen im Vorhinein die Ausgangslage und das Empfinden des Gegners erklären. An einer so geübten Empathie können die jungen Talente auch menschlich wachsen. Im Zweifel können auch hier Spielzüge ausprobiert werden. Überlegenswert ist außerdem das Abschaffen (öffentlicher) Individualstatistiken, die den einen oder anderen Einzelkönner zu übermotivierten Soloauftritten anstacheln.
4) Es kann auch hilfreich sein, wenn der unterlegene Gegner während der Partie offen und ehrlich den Wunsch ausdrückt, das Tempo, wenn möglich etwas zu reduzieren. Schließlich gibt es in denselben Wettbewerben oft verschiedene Ansprüche. Während sich das eine Team durchaus gerne überrollen lässt, um hautnah ein hohes Niveau zu erleben, wollen die Trainer eines anderen Teams vielleicht etwas mehr Rücksicht auf ihre jungen Spieler nehmen. Niemand sollte sich dafür schämen, den Gegner beim Zwischenstand von 0:15 um etwas Fingerspitzengefühl zu bitten.
5) Und schlussendlich sollte auch die Öffentlichkeit vorsichtig mit ihren Reaktionen auf hohe Ergebnisse umgehen. Nicht selten ist ein 1:22 eigentlich ein „sportliches“ 0:40. Vielleicht hat der Verlierer sogar darum gebeten, die Partie ohne Abstriche zu führen. Für einen Unbeteiligten, der das Spiel im Zweifel gar nicht gesehen hat, ist es mit Blick auf das bloße Ergebnis sehr einfach herumzupoltern ohne die Umstände tatsächlich zu kennen.
Fotos: IFF / Piotr Matusewicz, IFF / Jérémie Luke Dubois – JDUBOiS (2)