Der seltsame Neustart der Fußball-Bundesligen erweitert nur den massiven Abstand zwischen Deutschlands Nationalsport und seinen nunmehr noch winzigeren Verfolgern. Insbesondere Handball, Basketball oder Volleyball müssten eigentlich auf die Barrikaden gehen. Floorball darf zumindest beleidigt sein.
Niemand kann bestreiten, dass die Wiederaufnahme der Fußball-Bundesligen mehr als nur ein Geschmäckle hat. Dass sich nur Fußball die umfangreichen Hygienemaßnahmen leisten kann oder dass auch nur im Fußball Geisterspiele für Profivereine wirtschaftlich sinnvoll sind, ist erstmal eine Tatsache, mit der man leben muss. Wie kulant Regeln ausgelegt werden dürfen (Stichwort „Kontaktkategorien“) und wie nachsichtig Verstöße gegen Hygieneauflagen bewertet werden, ist aber eine Blutgrätsche in die Beine jedes stillgelegten Sportverbandes und -vereins.
Aber der Reihe nach. Dass die eigenen Fans gegen eine Fortsetzung der Bundesligen ohne ihre Teilnahme waren, schien im Ansatz nachvollziehbar zu sein, war praktisch aber vollkommen egoistisch und fußte auf den falschen Gründen. Denn natürlich stopft die Übertragung von Geisterspielen wichtige Finanzlöcher, rettet somit Arbeitsplätze, wie bei Vereinen so auch bei Zulieferern und Dienstleistern. Ist das Fanerlebnis denn wirklich wichtiger? Oder geht es um Stolz? Um die Teilhabe am ideellen Wertschöpfungsprozess? Um die Gemeinschaft? Wenn ja, dann hätte man beispielsweise stärkeren Druck auf die Spieler ausüben können, damit diese praktische Solidarität beweisen und auf mehr als nur symbolische Anteile verzichten. Dann hätte man das Gesamtprojekt Profifußball hinterfragen müssen, dessen perverse Ressourcen aktuell als genau das entlarvt werden, was sie in Wirklichkeit sind – ein Systemfehler.
Jene Argumente, welche die Verwerfungen innerhalb der deutschen Sportlandschaft aufzeigen, sind aber woanders zu finden. Gewiss, es ist in Ordnung, ja sogar geboten, dass manche Dinge unseres Alltags eingeschränkt oder verboten werden, während andere Dinge, die dieselbe Gefahr für eine Ausbreitung des Virus bergen, erlaubt sind. Schlussendlich geht es nunmal darum, das gesamte Ansteckungsrisiko irgendwie zu drosseln. Man kann nicht alles erlauben, man will nicht alles verbieten. Und bisweilen scheinen die Maßnahmen auch gut funktioniert zu haben. Problematisch wird es aber, wenn die Grundlage für Bevor- oder eben Benachteiligung nicht einmal mehr zufällig ist, sondern scheinbar jenen in die Karten spielt, die einfach nur lauter brüllen oder eine politische Lobby haben.
Dass Fußball eine problematische Sonderrolle in der Gesellschaft genießt, war bereits vor der Pandemie Tatsache. Oft geht es um Alltägliches, etwa dass dem DFB Hallenzeiten zugesprochen werden, die ihm nicht zustehen und in Städten, wo Mangel herrscht, eigentlich von Hallensport-Teams beansprucht werden. Ein Problem etwa, dass die Entwicklung des Floorballsports bremst. Dass millionenschwere Profiklubs Fördermittel einheimsen, die eigentlich im Breiten- und Jugendsport nötig sind. Dass Korruption und Geldwäsche so lange relativiert werden, bis es wirklich nicht mehr anders geht. Und dass auch die Massen selber oft auf beiden Augen blind sind, wenn Lieblingsspieler munter Steuergelder nach Panama durchschleusen und Fans ihren Kindern trotzdem schamlos Trikots jener Kriminellen überziehen. Alles hängt mit allem zusammen. Und die Schmerzgrenze (nicht nur) in Deutschland ist hoch, zu hoch.
Tatsächlich ist absehbar, dass die Pandemie der Bundesliga mittelfristig nicht schaden wird. Im Gegenteil. Mindestens bis zum 12. Juni, wann die englische Premier League neustarten soll (auch wenn sich einige charakterstarke Fußballer dagegen sträuben, wie etwa Watford-Kapitän Troy Deeney), ist die deutsche Bundesliga der einzige Fußball-Spitzenwettbewerb der Welt. Eine wirtschaftlich sensationelle Chance. Sky meldete am vergangenen Wochenende die erwarteten Zuschauerrekorde. Da darf man schon mal asozial sein.
Überraschend still verhalten sich indes die Verbände in der zweiten Reihe. Handball, Volleyball, Basketball, werden noch lange auf grünes Licht warten müssen. In kleineren Gruppen darf schon trainiert werden. Mancherorts schon in Hallen, oft aber immer noch nur unter freiem Himmel. Und ausschließlich in ausgewiesenen Sportanlagen. Sich im Park treffen, weil unfähige Ämter trotz Lockerungen derartige Anlagen nicht zu öffnen vermögen, ist verboten.
Die Schlagzeilen auf allen Sportseiten werden in den kommenden Wochen, wenn nicht sogar Monaten deshalb mehr als sonst Fußball gehören. Seine mediale und gesellschaftliche Dominanz wird sich noch weiter aufladen. Andere Sportarten werden nicht nur weiter in dessen Schatten dahinsiechen, sie werden für jene Zeit vollkommen aus der Fußzeile verschwinden. Der unverhältnismäßige Abstand wird größer, größer, noch größer.
Und irgendwo kauft Heiko Herrlich Zahnpasta.
Gewiss, es ist unfassbar kompliziert die richtigen Maßnahmen zu finden und noch um ein Vielfaches komplizierter sie zu lockern. Und wenn man die demonstrierenden Spinner auf den Vorplätzen dieser Republik sieht, tut man sich schwer das Überdenken von Einschränkungen einzufordern. Aber sofern Fußball all jene Freiheiten zugestanden werden, ist auch eine kontrollierte Öffnung des übrigen Sportbetriebs geboten. Denn dann spricht bei entsprechenden Hygienemaßnahmen, Tracking von TeilnehmerInnen oder Einschränkungen der Infrastruktur nichts gegen eine weitere Öffnung.
Oder nicht. Auch in Ordnung. Das wissen andere besser als unser übermotiviertes Fachblatt. Dann hat aber auch der Fußball nichts zu melden.
Foto: Tim Reckmann, Flickr